Wir laden Sie ein zu einem Exkurs in künstlerische Erfahrungen des Menschseins. In ein Abenteuer das mehr (ent)hält als ein elektronisches Medium verspricht. Der Wunderblock öffnet das Werk des Künstlers Manfred Scharpf Schicht für Schicht. Eine wahre Heldenreise durch fünfzig Jahre der Selbstbehauptung in der Moderne.

Veröffentlicht am 13.08.2018

Begegnung mit Mona Lisa

Es war im Frühling des Jahres 1502, als Leonardo das Bildnis der Gioconda begann. Über den genauen Zeitpunkt sowie über das damalige Alter der schönen Frau, liebe Zuhörer, möge ein Schleier gebreitet sein wie der, welcher das Antlitz Mona Lisas umhüllt. Denn wir wissen, dass es unschicklich ist über das Alter der Frauen zu reden. Es soll allein das Geheimnis des Meisters bleiben – und auch jenes, wie er in diesem Bild die Vergänglichkeit überlistete.

Leonardo hatte die junge Frau in einer Schenke inmitten der Stadt gesehen, in der öfters Kaufleute ihren Geschäften nachgingen. Seit diesem Tag trieb es ihn beinahe täglich dorthin zurück, guter Dinge, die Muse der Schönheit würde ihm eine zweite Gelegenheit bieten, sie näher kennen zu lernen – oder dass sie vielleicht sogar seiner Bitte entgegen kam, sich von ihm malen zu lassen. Und, tatsächlich, eines Tages begegnete er erneut der Schönen – und da er in dieser Zeit schon weit über die Grenzen des Landes hinaus als bedeutender Mann galt, dünkte es ihn, dass er sich sehr wohl den Mut herausnehmen durfte sie mit der ihm eigenen Mischung aus Vornehmheit und Selbstbewusstsein anzusprechen. 

Nicht so sehr die Tatsache, dass sie die Frau eines reichen Seidenhändlers war – wie sich herausstellte, der sicher in der Lage war auch einen Portraitauftrag zu erteilen (was er, der mit Vorliebe im Auftrag arbeitete, in Anbetracht der ständig leeren Kasse gerne ausgeführt hätte) – nein, ihre Anmut war es, die ihn begeisterte. Ihr Wesen, die Faszination ihrer Augen unter den auffallenden Jochbögen bestand darin dass sie von Augenblick zu Augenblick von Frohsinn in Melancholie verfallen konnte. So ließ er Lisa als sie ihm endlich Modell saß, durch eigens engagierte Musiker und Spaßmacher bei Laune halten – das dunkle ihrer Ausstrahlung blieb dennoch diesem Gesicht eingeschrieben als ein zeitloses Rätsel und Geheimnis welches bis heute niemand zu lösen imstande war; das er deshalb während des Malens studieren wollte. Denn wenn es den Menschen je gelang die Vergänglichkeit zu besiegen, dann mit den Mitteln der Kunst. 

Längst hatte er die Bildtafel aus bestem Pappelholz bei einem zuverlässigen Handwerker in Auftrag gegeben mit der Anweisung, in der Wahl des Holzes und der Bearbeitung keine Mühe und keine Kosten zu scheuen. So verwendete dieser nur die Teile des Stammes, welche auch unter Wärme, Kälte und Feuchtigkeit ihre Form behielten. Der Gipsgrund wurde sehr sorgfältig aufgetragen und mit Schachtelhalmen geschliffen, so dass die Fläche wirkte wie mattes Porzellan. Danach trug er die dünne Imprimitur aus Holzkohle und Eiweiss auf. Am Tag der ersten Sitzung untermalte er das Portrait mit Umbra und Bleiweiß. Nach dem dies alles sorgfältig ausgeführt war, machte er sich ans eigentliche Werk. Längst hatte er das Gesicht in Gedanken gemalt, eine Kleinigkeit für ihn, da doch des Künstlers Fähigkeit – und auch sein Privileg darin besteht alles erdenkbare imaginieren zu können, alle Formen und Gegenstände der Welt allein mit seiner Vorstellungskraft zu bilden. Auch hatte er genaue Rezepturen erstellt, die sich wie Geheimschriften lasen. Diese Verschlüsselung hatte durchaus seinen Grund, denn als einer der ersten wendete er die Prinzipien verschwimmender Öllasuren und der „trüben Medien“ an, mit denen der Maler die Transparenz der Haut trefflichst nachzuahmen in der Lage war.  
Wer konnte dieses geheime Wissen um die Malerei verstehen?  
Die Stoffe zu zwingen sich dem Maler zu fügen - 
Alabaster, Bleiweiß und Kreide
Leim aus den Häuten der Kaninchen,
Lapislazuli und Azurit, 
Ocker und der listige Grünspan, der sich dagegen sträubte, Pigment zu werden, 
auch gebrannte Siena und Zinnober aus dem Berg, 
Leinöl, an der Sonne eingedickt,
dann honigfarbener Firnis, 
und Terpentin aus Venetien, Harztropfen der Kiefer, 
vor allem luftige Pinsel, sorgfältig gewaschen, gezupft und gekämmt,
wie die endlosen Wasserwellen in den Frisuren der venezianischen Frauen
um die Farblasuren auf das dünnste und feinste zu verschmelzen. 
Wer könnte sie je verstehen, diese Erschaffung eines Universums, in dem nur der Maler zu Hause sein durfte, die Pigmentschichten auf seinen Tafeln von Geist durchzogen wie durchsichtige Seidengespinste im kristallklaren Fluss.
Diesmal verließ er sich nicht auf die Experimente, die er sonst so liebte. Die Technik des „Sfumato“, jene Malweise, bei der mit Hilfe besonderer Ölzusammensetzungen und Vertreibtechniken subtilste Übergänge der Farben gelangen – das, ja das konnte er im Schlaf. Tausendmal hatte er dies ausgeführt bis das Wunder gelang, bis kein einziger Pinselstrich als solcher mehr zu erkennen war, das Bild als eine geistgefügte Schöpfung erschien ...

Zeitsprung

23. Juli 2007
Wir Künstler bestehen aus unendlich vielen Wesenheiten, aus zornigen Dämonen und demütigen Heiligen, aus Göttern und Teufeln, doch ziehen wir diesen aufregenden Zustand der fürchterlichen Normalität der Massen vor, die nichts verstehen.

"Es werden die Menschen mit Menschen reden, die nichts vernehmen, welche die Augen offen haben und nicht sehen; sie werden zu diesen reden und keine Antwort bekommen; sie werden Gnade erbitten von dem, welcher Ohren hat und nicht hört; sie werden Lichter anzünden für den der blind ist." Leonardo da Vinci

Ständig drängt uns die Frage, welchem von diesen in uns wohnenden Geistern wir den Raum geben, sich in uns erniedrigend oder erhebend zu bekunden. Zumeist melden sich die imaginären Gestalten in kreativer Einsamkeit – wie heute in diesem Etablissement mit dem vielsagenden Namen Moulin Rouge im mährischen Brünn, an dessen Bar ich grübelnd verweile. Oft war ich hier, die Mädchen kennen mich. Manchmal erscheinen neue Gesichter, Schönheiten aus dem weitesten Osten Europas, aus Moldavien, Russland und der Ukraine. Lange war es her, dass eine von ihnen meine Faszination hervorrief, lange kam es zu keinem Bild mehr. Soeben eilt die Bedienung um ein betoniertes Eck der Theke, um mir den nächsten Wodka zu servieren. Interessant, wie sich ihre mährischen Rundungen mit der scharfgeschliffenen Mauerkante versöhnen. Ihr eilender Schritt lässt das Fleisch der Schwerkraft folgend rhythmisch auf- und abschwingen. Die Szene verlangsamt sich in meinem Beobachtungsapparat bis zur Zeitlupe. Lichtblitze des Stroboskops auf dem kleinen Podium leisten dazu einen beinahe psychedelischen Beitrag. Plötzlich entdecke ich auf dem wogenden Busen der Bardame vor mir beunruhigende rötliche Flecken die ihre Schönheit empfindlich stören – und gleichzeitig nehme ich auf dem grauen Beton der Wand fettig abgegriffene Stellen wahr die entstehen, wenn das Personal mit der Hand um die Ecke streicht. Daß auf so verschiedenen Objekten gleich abstoßende Hässlichkeiten schwärend vereint sein können! Ich erinnere mich an Leonardos Anweisung morbide Putzflächen zu visualisieren und in deren Unregelmäßigkeiten Bilder zu imaginieren. Eine ausgezeichnete Schule des Sehens, denke ich und versuche meine nächsten Bildmotive herauszulesen. 
So sehr mich die warme Fülle der Frauen immer zu malerischen Taten motiviert hatte – eher beiläufig verfolge ich den Weg der Serviererin durch den Raum, der wie sein berühmtes Pariser Vorbild in rotem Plüsch ausgestaltet ist. In der Dämmerung erkenne ich eine sitzende Gestalt – eine der Tänzerinnen, die auf ihren Auftritt wartet. Eine andere, nimmt jetzt neben mir Platz, ich vermute darin den Versuch mir ihre Dienste angedeihen zu lassen. Doch es kommt anders. „Du bist doch Maler“, sagt sie leise, „ich möchte dich auf meine Freundin aufmerksam machen, immer wenn ich sie sehe, denke ich an Mona Lisa.“
Als sich endlich die Gestalt aus dem Dunkel löst und sich dem Podium zuwendet, muss ich ihr Recht geben – sie besitzt eine schockierende Ähnlichkeit mit Leonardos berühmtestem Bild. 
Als sich das Mädchen nach ihrem Auftritt wieder setzt spreche ich sie an, frage sie vorsichtig, ob sie mir Modell sitzen würde. Entgegen meiner Erwartung reagiert sich weder abweisend noch bejahend. Verhält sich als wenn ich nicht anwesend wäre. Mit Fotos und Modellsitzen wird es also nichts, denke ich frustriert. Da bleibt mir nur der althergebrachte Weg über die spontane Skizze auf Papier. Am nächsten Tag wiederholt sich die Szene. Im nachtclubtypischen Restlicht nehme ich meinen kleinen Zeichenblock den ich glücklicherweise immer mit mir führe zur Hand und skizziere mit raschem Strich. Unwillkürlich wähle ich die Perspektive, die auch mein berühmter Vorgänger benutzte. Auch dies lässt sie unbeeindruckt. Erst als ich den Stift zur Seite lege und ihr den obligatorischen Sekt bestelle, den sie mit einem kleinen Quirl umrührt um die Kohlensäure zu entfernen, sieht sie mich direkt an, doch ohne ein Wort zu sagen. 
Noch in der Nacht trete ich die Heimreise an und mache mich ans Werk. 
Den Bildausschnitt der originalen Mona Lisa verwende ich seitenverkehrt, in werksgetreuer Malweise des 16.Jhds. Das moderne Gegenstück lasse ich in Umbra und weiß auf Grau getöntem Kreidegrund stehen. Nur die Augen gestaltete ich lebendig. 

Es existieren zahllose Kopien, Variationen und Karikaturen dieses Portraits von Leonardo von ebenso zahllosen Künstlern. Dali und Marcel Duchamp sind nur zwei davon. Sie alle rühmten mit ihren Arbeiten das Werk Leonardos und trugen zu dessen Unsterblichkeit bei. 
Mein Bild der zwei Schwestern aus Vergangenheit und Gegenwart aber handelt nicht von diesen selbst, sondern von der Kraft der Kunst, Zeit und Vergänglichkeit zu besiegen. 


Geheimnis

Die Schöne sah mich an, 
in der Nacht,
es war mir nicht klar,
wer genau es war,
rote Lippen, 
ewige Schönheit,  
nie vorbei?
Es sei
Im Bild
jene die es war.

Nachtrag

„Ein Rätsel um Mona Lisa ist gelöst“ – war kürzlich in den Medien zu lesen und zu hören. 
Die Maltechnik der italienischen Tafelbilder der Renaissance trieb die Wissenschaftler, die das Bild in einwöchiger Sitzung unter die Lupe nahmen zu purer Verzweiflung. Die weichen Übergänge der Öllasuren waren für Technologen und Technokraten nicht erfassbar. Das „Sfumato“ (rauchig) war den Technologen und Physikern schleierhaft. Dabei hätten sie nur den Maler Scharpf oder einen seiner in gleicher Technik malenden (seltenen) Kollegen zu konsultieren brauchen. Denn seit vielen Jahren verwenden auch diese Leonardos Maltechnik und auch sein „Sfumato“ in eigenen Bildern. 
Wie viel Röntgenstrahlen muss das berühmteste Werk Leonardos ertragen, bis Wissenschaftler das Geheimnis ergründen, dass praktische Erfahrung sehr oft über wissenschaftlicher Erkenntnis steht.