Wir laden Sie ein zu einem Exkurs in künstlerische Erfahrungen des Menschseins. In ein Abenteuer das mehr (ent)hält als ein elektronisches Medium verspricht. Der Wunderblock öffnet das Werk des Künstlers Manfred Scharpf Schicht für Schicht. Eine wahre Heldenreise durch fünfzig Jahre der Selbstbehauptung in der Moderne.

Veröffentlicht am 18.03.2019

Starker Abgang

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Am Sonntagmorgen des 27.1.2019 begingen – unbemerkt von den Medien zwei große Gestalten der Kunstgeschichte Selbstmord. Und ich wurde zum Augenzeugen.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich schon während der Fahrt nach München, vermutlich ahnte etwas in meinem Inneren bereits, was mich vor dem Portal der Alten Pinakothek erwartete. Das war nicht nur der Strom lüsterner, mit Iphons bewaffneter Besucher, jeder ein großer Meister kunsthistorischer Verbildung – nein, an diesem Morgen geschah noch mehr.

Der Ansturm war außergewöhnlich. Die Menge der Kunstfreunde, von denen vermutlich keiner jemals einen noch lebenden Künstler  mit einem Ankauf unterstützte, zog sich über mehrere hundert Meter. Ich reihte mich wie es sich gehörte, am Ende der Menschenschlange ein. 
Die vor mir Stehenden machten sich Sorgen. Es ging nur um eine Frage – Blockabfertigung oder ungehemmter Einlass an die Futtertröge der Kunst? Das beschäftigte die Gehirne und mein Warten geriet zur unterhaltenden Menschenstudie. In jedem Fall aber schritt die Zeit ungünstig voran, der sonntägliche Lunch würde den Kunstgeniessern  eine jähe und unüberbrückbare Grenze setzen. 
Dann plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Blicke aller richteten sich auf die oberen Fensterreihen des altehrwürdigen  Kunsttempels. Auch ich folgte dem Blick der Anderen. Zwei Gestalten zeigten sich dort silhouettenhaft. Ja, ich kannte sie von ihren Selbstbildnissen – Rubens und Signorelli waren es, meine malerischen Vorbilder seit ich denken konnte. Was wollten sie dort oben? Luca hatte sich offenbar aus der Sonderausstellung italienischer Meister in den ersten Stock verzogen. Nun öffneten die beiden das hohe Fenster, neigten sich über die Brüstung und prüften mit einem Blick nach unten, ob die Höhe des Gesimses ausreichend und tief genug sei für ihr Vorhaben mit dem sicher niemand rechnete. Mit bleichen Gesichtern standen die beiden auf der Brüstung, dann sprangen sie, stürzten begleitet vom Aufschrei der Menge ins welke winterliche Gras. Ihre verrenkten Glieder glichen den gemalten bizarren Höllenstürzen ihrer Gemälde. Ich brauchte einige Minuten um mich von dem Anblick zu lösen, hatte aber genug gesehen. 
Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Ansammlung der schockierten Kunstfreunde, die ihre Aufmerksamkeit nun auf den Einsatz der Rettungssanitäter richteten, die schon Minuten später vor Ort waren, aber nur den Exitus der beiden Künstler feststellen konnten.

Warum bloß hatten die beiden dies getan? Wurde es ihnen gar von der Museumsleitung nahegelegt angesichts der Besucherzahlen, die nur mit künstlicher Bedarfsweckung im schwarzen Bereich blieben? Nein, sicher dachten sie mit ihrem Freitod nicht an einen PR Gag für das Museum. Ich glaube sie wollten den Blicken entgehen, die ihnen ihr innerstes Geheimnis zu entreißen versuchten – und dafür in einem fragwürdigen Tauschhandel nichts weiter als ihre visuelle Geilheit ins Bild brachten. 

An jenem Tag, während der Rückfahrt verabschiedete ich mich nicht nur von den beiden alten Meistern sondern auch von allen anderen Idolen, an die ich mich seit dreiundsiebzig Jahren geklammert hatte, die mich begleitet hatten als stille Helfer und Teilhaber, als Mahner und Beflügler, als tröstende oder dunkle Engel. Und plötzlich breitete sich ein unbändiges Gefühl der Freiheit aus. 

Sie waren aber nur das Vorspiel zu einem wahren Totentanz meiner narzisstischen Krücken. Denn in den kommenden Wochen stürzten sich noch weitere meiner Vor- und Weltbilder zu Tode. Lange hatten sie mir ja als ein Daseinsmotiv gedient. Ich glaubte ohne diese geistigen Überväter nicht auskommen zu können. Insgeheim rieben sich diese die Hände, trug ich doch ihre Namen und ihr Werk in meine eigene Zeit, ein Stück Unsterblichkeit das Andere nach mir fortsetzen würden, wenn sie und ich, da muss man ehrlich sein, es doch auch immer nur zu unserem eigenen Nutzen taten. 
Einzig zwei Frauen, Melanie Klein und Janine Smirgel wollte ich nicht vom Sockel stürzen lassen. Vorerst. Das waren ja auch Frauen mit weiblicher Weisheit und kristallenem Geist die mir noch andere Blickwinkel der Seele zeigen konnten.  

Mit jedem der Gestürzten wurde das biographische Notizbuch meines Lebens leichter, mehr und mehr lösten sich die Nebel. Und mit jedem der mich verließ kam ich der glücklichen Zeit wieder näher, als Kuhmist auf den Wasserleitungen und ein Sarg auf der Wiese vor dem zerfallenden Bauernhaus, mit dem der „unbotmäßige Meister“ (wie die Stuttgarter Zeitung schrieb) des Winters den Berg hinunterrodelte. Direkt vor das Tor des Sternerestaurants Hirsch. Kaum hatte ich seither das Thema Eros und Thanatos der nur vordergründig feindlichen Geschwister wirkungsvoller auf eine Bildtafel gebannt als mit diesem Happening, das bereits im kollektiven Unbewussten der Volksseele Einzug gehalten hat. In einem bin ich heute etwas weiter – mehr als damals verstehe ich die Verschränkung zwischen EROS und THANATOS, dieses ungleichen Paars, das nur durch unser Denken in Spaltung lebt. 
Sicher hunderte Male hatte ich versucht dies in meinen Bildern zu zeigen. Aber nie wieder gelang es so wie bei diesem unmittelbaren Akt prallen Lebens. Ein Symbol des Todes gleitet  über Eisschichten hinweg hinunter ins Tal wo eben der geniale Küchenmeister auf erhobenem Arm die Platte mit zarten Fasanenbrüstchen auftrug. „Es ist zu Ehren der Kunst", meinte er.

Ein weiteres Gedächtnisgerinsel meldet sich jetzt. Zweimal fuhr ich nach Mähren in die Geburtsstadt Freuds, hatte die dortige schwarze Madonna in unmittelbarere Nähe seines Geburtshauses sehen wollen. Weder fand ich eine solche damals anläßlich meiner Parisreise, noch hier in Pribor – die Kirche und mit ihr die Madonna blieben mir verschlossen. 
Doch hatte dies seinen guten Grund. Es war eben nicht nötig und der Weg war auch in diesem Falle das Ziel. Die Richtungspfeile zeigen sich nicht nur im Gelingen, sondern auch im Misslingen der geplanten Vorhaben. Oft erkennen wir erst im beschreiten der falschen Wege das was wir sein wollen aber nicht sind. Ideale, Vorbilder denen wir nacheifern, verfallen – oder auch vehement ablehnen. Die Ratio, in die wir uns flüchten, ist uns kaum behilflich, das zu finden was wir sind. Allenfalls sorgt sie für eine Ordnung in der wir die Ruhe finden um die unnützen Seiten unseres Lebensnotizbuches zu prüfen und zu überdenken.