Wir laden Sie ein zu einem Exkurs in künstlerische Erfahrungen des Menschseins. In ein Abenteuer das mehr (ent)hält als ein elektronisches Medium verspricht. Der Wunderblock öffnet das Werk des Künstlers Manfred Scharpf Schicht für Schicht. Eine wahre Heldenreise durch fünfzig Jahre der Selbstbehauptung in der Moderne.

Veröffentlicht am 26.10.2018

UND PLÖTZLICH...

Oktober 2018

Zyklus 5-teilig, nach einer "plötzlichen" Idee entstanden. Frontseite: "...UND PLÖTZLICH“ Öllasurtechnik, Rückseite: „SCHATTENWELTEN“, Schwarzlotmalerei

...Im Februar 2018 führte ein Sturz des daueraktiven Künstlers Scharpf nicht nur zum Totalschaden des rechten Schultergelenks sondern auch aus manischer Unermüdlichkeit, die er glaubte sich und anderen schuldig zu sein.
Wie Blütenpollen im Frühling den Zwiespalt zwischen Mensch und Natur offenlegen, mit Krätze, Nasenfluss und geröteten Augen ihre Macht demonstrieren, so trat ihm Monate später an gleicher Stelle etwas völlig Unerwartetes entgegen, legte die Hand auf seine Schulter, beinahe wie um sie zu heilen. Das war keine Berührung der üblichen Art, es war, als senkte sich die Energie der gesamten Natur in ihn hinein.

Der Blitz, den dieses Ereignis auslöste rührte nicht vom Schmerz seines zerstörten und gezerrten Muskelgewebes, er fuhr in ihn wie die zahllosen Blitze davor mit denen sich jedesmal ein neues Thema ankündigte das auf seinem Weg lag - aber auf Grund seiner selektiven Blindheit ungesehen blieb und sich meistens erst später durch eine aufhellende Begebenheit in seine Wahrnehmung zwang.

Ein wenig deutete sich auch Mephistos Schwefeldunst (der solches immer begleitete) diesen Tages an, stieg da und dort aus dem gegärten Laub des vergangenen Jahres, überlistete den seelenheimischen Abwehrschirm. Vor seinem Auge sah er die gefürchteten Allergene unerwünschter Wünsche durcheinander wirbeln. Er sah, wie sie einer Ordnung zustrebten und sah, wie sich ihre Geister auf steingrundierten Holztafeln verfestigten. Jedes im Widerstreit mit dem anderen. Er sah, wie Farbe und Form aus seinem Pinsel quollen und sich auf dem Tableau schließlich doch umarmten. 

Ein höhnisches Lachen erklang plötzlich wie Begleitmusik zu diesem imaginären Reigen. Stand dort hinter dem Busch der Tollkirsche nicht der listige Pablo, der sich nichts mehr wünschte als wieder Kind zu sein und das Kindliche in seinem Werk befreite? Er, der die Realität mit Phantasie zu übertäuben suchte machte die Rechnung allerdings ohne den Wirt. Er vergaß – die Zeiger der Zeit sind nicht zurückstellbar, nicht einmal von Giganten wie ihm. Stand nicht weiter hinten Rubens der Göttliche, der den Maler Scharpf seit seiner Kindheit begleitete, mit der blütenhautweißen Helene Fourment inmitten ohrenbetäubender Höllenstürze? Ein Gewimmel des Menschseins bildete er ab das ihn und seine Zeit umgab. Dem Schrecken des Krieges setzte er Helenes von Blut durchpulste alabasterne Hautschichten entgegen. 
Scharpf fühlte sich diesen Beiden, vor deren Werk die Betrachter wirkten wie Zwerge, nahe - bei allen dimensionalen Unterschieden. Niemand würde sie je verstehen, das war beiden bewusst. Doch war es ihnen einerlei, denn die Kränkung welche Unverständnis und Ablehnung auslöst, war doch auch ein Teil ihres inneren Antriebs. Es ging ihnen nicht darum die Geheimnisse gelüftet zu sehen hinter ihren wunderlichen Metaphern. Einzig die Kinder die selbstverständlich den Zugang zu ihnen fanden, erhielten ihre Achtung. 

Wie konnte der Besucher eines Museums das Gefühl hautnah erleben, wenn die Hand des Künstlers über die Brüste seines Modells strich? Wer sah blühende Rosen im Januar hinter denen sich die Mauer öffnete, Dionysos herausblickte und den Menschen, statt der bunten falschen, die wahre Natur der Farben zeigte? Das echte Rosa aus Krapplack und Kremserweiss. Und weiter - Ultramarin und Veronesergrün, Indigo und Neapelgelb.  Wer verstand die Sprache der Wildschweine, der heiligen Tiere alter Kulturen, die gerade jetzt des Malers Scharpf Weg kreuzten? 
Wer konnte die unmittelbare Spannung des Lebens nachvollziehen aus der bei seinen Happenings und Venusbanketten lebendige Bilder entstanden – immer aus dem zufälligen plötzlichen Ereignis geboren? Wer sieht, wie sich Menschen im Betrachten von gemalten Bildern selbst in diese verwandeln? 
Wer bewegte sich mehr zwischen Himmel und Hölle wie P. und R. – oder sogar auch S., der einst zwischen Kirchenschiff und den Fresken der Gewölbe seine Kunst und sein eigentliches Leben begann?

In der Kunst existiert kein abgeschlossenes Werk, durchfuhr es den Maler jetzt. Das Ereignis, herausgelöst aus dem zeitlichen Kontinuum ist doch jedesmal auch die Grundierung des Nächstfolgenden, trifft auf einen übervollen Seelenspeicher, vereinigt sich mit ihm in einer chymischen Hochzeit und drängt wieder mit Gewalt nach draußen, wo es sich mit dem nächsten wenn auch noch so unscheinbaren Ereignis verbindet. 
Hatte dies Rubens gemeint, als er die beiden kleinen Satyre malte, die dem üppigen Fleisch einer Erdmutter Milch entlocken? Deutete er damit bereits im Barock auf die Theorie Melanie Kleins von der guten und bösen Brust – vom Strom des Lebens und der Kreativität?
Jetzt betritt die kleine Tochter des Malers das Atelier und reicht ihm ein rubinrotes Gummibärchen. Das passt mir ins Bild, eine Zeit wie aus Gummi, denkt sich der Maler und schon klammert es sich in öliger Lasur am Rücken eines der schwulen Jungs fest, die halb fasziniert, halb entsetzt vor dem rubensschen Bild des Silens stehen. 

In diesem Moment bricht das Eis unter Sophias Füssen, es scheint als wäre es durch ihre vitale Kraft geschmolzen und nicht zerborsten. Am Nachmittag regnet es Tortenstücke, Tokajer Würste und Allgäuer Emmentaler von einem kobaltblauen Himmel. Nicht alles davon ist genießbar was sich hinter zersprungener Glasscheibe herniedersenkt. Und doch senkt sich diese wundersame Influenza wie ein Heilmittel in des Künstlers gezerrte Muskeln, Sehnen – und in seine Seele.