Wir laden Sie ein zu einem Exkurs in künstlerische Erfahrungen des Menschseins. In ein Abenteuer das mehr (ent)hält als ein elektronisches Medium verspricht. Der Wunderblock öffnet das Werk des Künstlers Manfred Scharpf Schicht für Schicht. Eine wahre Heldenreise durch fünfzig Jahre der Selbstbehauptung in der Moderne.

Veröffentlicht am 29.05.2018

PRÄGUNGEN

1945 – nach dem Wunsch meiner Mutter sollte ich ein Mädchen werden. Alte Fotos zeigen mich als solches verkleidet. Das ging gründlich schief und verursachte einige Verwerfungen auf dem Weg zum Erwachsenen.
Mit zwölf begann ich – zur Verwunderung meiner Eltern, Bachs Kunst der Fuge und Monteverdi´s Orfeo zu hören. Mit sechzehn las ich Dantes Inferno. Danach de Sades Justine, mehr aus Angst vor Entdeckung als aus Pietät verkrochen unter der Bettdecke. Solche Ängste gingen erst später den Bach runter. Das Werk de Sades, nicht gerade lustbeflügelnd, sondern eher das krasse Gegenteil, hatte einer meiner Klassenkameraden aus dem Schrank seines Vaters, eines Altphilologen entwendet und verlieh es an seine Mitschüler gegen Entgelt. Zuerst schockiert, dann fasziniert. Da hatte doch Einer am Ende des 18.Jhdts. den Mut, die Abgründe der menschlichen Seele abzubilden, wie sie sich sonst nur in Kriegszeiten demaskieren. Er, de Sade, dessen Name für eine Pathologie der Perversion herhalten muss, von dem seltsamerweise aber kaum persönliche Abartigkeiten bekannt sind – hatte den Zustand der gesellschaftlichen Elite (der unseren nicht unähnlich), am Vorabend der französischen Revolution beschrieben. Eine Zeit des Umbruchs war gekommen. Zur Zeitenwende vom 19. zum 20. Jhdt. verliehen die Forscher Krafft-Ebing und Sigmund Freud den von de Sade beschriebenen Grotesken ein psychologisches Gesicht. Trotz dieser Erkenntnisse kam es zur größten Katastrophe seit Menschengedenken.

Mit siebzehn begann ich eine Lehre als Kirchenmaler, danach war ich ein geprüfter Meister historischer Maltechnik. Mit fünfundzwanzig beendete ich diesen Beruf abrupt, als ich unter dem Kirchengewölbe von Rötsee die Notdurft eines Zeitgenossen in meinem, mit Veroneser Grün gefüllten Farbtopf vorfand. Der Täter? Bestimmt ein Mensch christlicher Nächstenliebe der es nicht ertrug, dass ein junger Mensch sein Talent an Kirchendecken verkümmern ließ. Womöglich aber auch eine liebevolle Zuwendung des Teufels aus demselben Deckenfresko, der seinen schwefligen Dünger für die erste Bewusstseinsexplosion meines Lebens gespendet hatte. Die folgte prompt mit einer überwältigenden Zukunftsvision. Ich sah ein Leben vor mir, das alle Lebensbereiche einbezog als Besucher eines universellen Welttheaters. Wie durch ein Mikroskop wollte ich dieses Menschsein bis ins genaueste erforschen und erfahren. Dieser Traum sollte in Erfüllung gehen mit all seinen Konsequenzen – ich ahnte es damals nur noch nicht.

Alte Gemälde, alte Musik und den Dingen auf den Grund zu gehen waren Lebensimpulse mit Spannungsabbau, geheimnisvolle Welten, die ich mit niemand teilen musste, die mir eine Kraft verliehen mit der ich mich für die Kränkungen rächen konnte, die jeder junge Mensch erleben muss um erwachsen zu werden.

An den Kirchendecken sah ich in den Fresken der Maler, dass de Sades Protagonisten und Perversionen keineswegs nur seiner Phantasie entsprungen waren, sondern dass sie Ausdruck eines kollektiven Urstroms sind, der mehr oder weniger kaschiert das Leben der Menschen bestimmt. Ich bekam einen Schimmer von der Gewalt in den Familien, vom verhaltensgestörten Machtwillen der Politik, der Massenmörder und der falschen Propheten. All dies hatten die Künstler schon vor Jahrhunderten abgebildet, oft aber leider im Sinn der Auftraggeber und nicht ohne die Rettung der Seelen durch ein implantiertes Überselbst anzubieten. 
Zwangsläufig mussten solche Prägungen in eine Parallelwelt münden – die Kunst. Die Kunst wurde zum wertvollen Medikament gegen eine fremdbestimmte kulturelle Ordnung, mit der ich nichts zu tun haben wollte. So ließen sich meine Arbeiten auch in keine der Schubladen der Kunsttheorie einfügen, was das Leben allerdings nicht gerade vereinfachte. 

Denn ich erfuhr bald, dass die Menschen nicht von besonderem Interesse beseelt waren, ihren Absurditäten und ihrer Heuchelei auf den Grund zu gehen. Vor allem aber – dass das Böse immer das Fremde zu sein hat.
Damit einher ging eine neue Anschauung der sogenannten Sünden als Repräsentanten leidenschaftlichen Denkens und Handelns. Ein erfülltes Leben, das erfuhr ich, ist ohne Verfehlung nicht denkbar. Der eigentliche Sündenfall der Menschen ist nicht was sie glauben, sondern die Angst in Frage zu stellen was sie glauben. 

1980 floh ich in die Berge, in die Unerbittlichkeit der Natur, erlebte aber auch den tröstenden Wandel der Zyklen von Entstehen und Vergehen. Danach ging ich dem Krieg auf den Grund. Vier Meter tief in der Erde fand ich einen weiteren Beleg menschlicher Fehlleistungen im zerrissenen Körper eines Weltkriegspiloten. Ich kam in Berührung nicht nur mit jedem noch so kleinen Teil seiner zerschmetterten Messerschmitt, sondern auch mit seinen nach siebzig Jahren noch blutenden Überresten. 


Das brannte sich tief ein in meine Seele. Und eines Tages wurde ich Zeitzeuge des unsichtbaren Krieges, der täglich die Gesellschaft durchwütet – des Amoklaufs von Winnenden, dem Krieg der Kinder. Alle diese Erfahrungen provozierten eine erneute Auseinandersetzung mit Freud – körperliche und geistige Krankheit als natürliche Manifestationen des Lebens. Die Werke seiner Schülerinnen, Janine Chasseguet´s „Perversion und Kreativität“, sowie Melanie Kleins „Analogie der mütterlichen Brust mit dem Lebensstrom künstlerischer Kraft“ waren eine Erleuchtung. Zudem kam die Groteske in mein Werk, das Treibmittel dazu waren vor allem Luca Signorellis groteske Fresken in Orvieto, ein wahrhaft teuflisch gutes Werk. Er selbst steht davor und zeigt mit Stolz: das habe ich gemacht, dazu war ich fähig! Eine klare Ansage am Vorabend des Zeitenwandels von der Gotik zur Renaissance. Viele Jahre später, 2013, verarbeitete ich ähnliches in altarhaften Bildergruppen mit Motiven unserer Zeit. Mit der – oh Wunder – anschließenden Anerkennung eines weltoffenen Papstes. 

Empfanden de Sade, Freud und Signorelli Freiheit bei dem was sie taten? Eine gefühlte Freiheit sicher. Und doch waren auch sie Getriebene. (War ein Mensch denn jemals wirklich frei?) Wir fragen weiter – sind wir vernünftige Wesen? Die Forschung zeigt, dass Bruchteile von Sekunden vor einer bewussten Entscheidung diese schon vom Unbewussten getroffen wird. Ein empfindlicher Schlag gegen unsere Hybris – wir sind nicht der Herr in unserem Haus.

Aber auch ich kam erst spät am Boden der Tatsachen an die in den Gesetzen der Natur begründet sind. Der leichfüßige Narziss fiel sich selbst zum Opfer, sein Spiegelbild erwies sich als trügerisch.
Dafür leuchtete am Horizont etwas ganz Neues auf, das Gefühl der Geborgenheit in der Schöpfung. Plötzlich war ich resistent gegen all die Angriffe, Belehrungen und Manipulationen des Proletariats der akademisch Verbildeten, der eindimensionalen Elite.
Die Bewegungen in den Grenz und Tabuzonen der Gesellschaft halfen mir weiter als Diese. In der mährischen Stadt Znojmo, früher durch saure Gurken bekannt, nach der Wende durch vierundfünfzig Bordelle, traf ich in einer Bar Magdalena. Durch sie kam es zu einem großen gleichnamigen Werk. Magdalena begann als Domina, jetzt kultiviert sie Obstbäume und geht mit ihren Äpfeln auf den Markt.
Ein „Blind Date“ mit Ruth, einer schönen sechzigjährigen Frau die schlimme Zeiten wegen ihrer Brust OP hinter sich hatte, inspirierte das Werk der Pandora, heute in der Sammlung des Landkreises RV. Elena, jetzt verheiratet mit einem Politikprofessor, wurde zur Göttin Kybele in meinen Happenings. 
Das Mädchen Zuzana verwandelte sich in der „RÜCKKEHR DES HERZENS“ in die antike Königstochter Europe. Zeus der Stier, von einem Bauer der Umgebung ausgeliehen, hatte wenig Sinn für meine Inszenierung. Er brach aus und zerstörte die Salatplantagen auf der Reichenau.
Die folgenreichste und schönste Begegnung aber war die mit meiner Frau Renata an der östlichen Grenze der EU, mit der daraus hervorgegangenen kleinen Tochter Sophia. Integration zwischen Ost und West, dem Bekannten und dem Fremden, Logik und Emotion.

Den Kindern und jungen Menschen verdanke ich besonders viele Impulse. Eines Tages begann ich mit den jungen Strafgefangenen der JVA Ebrach zu arbeiten. 
Der bemerkenswerte Gefängnispfarrer Lyer hatte es ermöglicht. Jeweils an den Wochenenden entstand dort der „SCHLÜSSEL VON EBRACH“. Von meinen Mitarbeitern an diesem Werk, beileibe keine Kaugummidiebe, sondern Schläger, Mörder und Drogendealer wurde nach der Entlassung nur einer rückfällig. Auch so kann Kunst wirken.

Der „EBRACHER SCHLÜSSEL“ bewirkte aber noch mehr. Er legte in mir selbst das seit der Kindheit verschüttete Portal zwischen Ratio und Emotio frei. An dieser Stelle liegen die größten Probleme und Fallen des modernen Menschen. Beinahe kennt er nur noch kaltes Kalkül, sentimentales Seufzen oder reflexartige Fehlentscheidungen. Die unmittelbare Wirkung der Phänomene der Welt auf die Seele des Betrachters wird durch das Panzerglas des Intellekts unschädlich und zunichte gemacht. Der Mensch bleibt ratlos und den Bedeutungsschablonen der Wissenschaft ausgeliefert. Seine wichtigsten geistigen Instrumente, Lernen und Erkenntnis, seine Spiel-, Fühl- und Gedankenräume ähneln den Betonwüsten seiner Städte. Wer es nicht glaubt, sollte nur einmal den Straßenverkehr mit den Symptomen von ADHS in Vergleich bringen.

Was ich hier schreibe stammt – obwohl nur ein Bruchteil des Ganzen, nicht nur aus Büchern, sondern hauptsächlich aus meinem eigenen prallen Lebensstil. Ich gebe zu, es ist an mancher Stelle so grotesk wie mein gemaltes Werk – der Selbstversuch eines Zeitgenossen, der auszog das Fürchten zu lernen. Seien sie mir und meinem Werk gegenüber von Herzen zu- oder abgeneigt, böse oder begeistert, indem sie es sind, spiegeln sie sich selbst.

Was ist die Essenz aus diesem alchemistischen Künstlerleben, das die Gegensätze so herausfordert und doch immer wieder eins werden darf? Was bleibt aus der zurückgelegten Strecke durch himmlische Sphären und des Menschseins unterste Schubladen? Ein Reservoir an Geschichten und Anekdoten, Zeugnisse der Existenzbewältigung. Es bleiben aber vor allem gemalte Bilder als Dokumente unserer Zeit. So menschlich begrenzt sie auch sein mögen, so wahr sind sie, so wahr wie es nur das tatsächlich Erlebte und Begriffene garantiert. Es bleibt ein Atemzug des wundersamen Dionysos.

Bildnachweis:
Porträt Schale mit Erden ©Henry Linder
Altar Beatrice ©Hendrik Steffens
Restliche Bilder ©Manfred Scharpf