Wir laden Sie ein zu einem Exkurs in künstlerische Erfahrungen des Menschseins. In ein Abenteuer das mehr (ent)hält als ein elektronisches Medium verspricht. Der Wunderblock öffnet das Werk des Künstlers Manfred Scharpf Schicht für Schicht. Eine wahre Heldenreise durch fünfzig Jahre der Selbstbehauptung in der Moderne.

Veröffentlicht am 03.06.2022

Leidenschaft

Das Tor ist offen, das Herz noch mehr - Porta patet, cor magis.
Alles was mir begegnete, widerfuhr und was ich als Maler in Bildern wiedergab, empfinde ich als Schritte auf ein geheimes Portal zu das sich nun langsam öffnet. Inspirationen und gemalte Metaphern, gleich welchen Themas erweisen sich nun als Ahnungen, als leidenschaftliche Wegweiser durch dieses imaginäre Tor.

Wenn wir uns verändern wollen – und Veränderung ist ein Charakteristikum des Lebens selbst – ist es unverzichtbar als erstes einen Blick auf uns und in sich hineinzuwerfen – schonungslos den in uns schlummernden Fremdling zu entdecken. Wir erkennen dann, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dass die Ursache aller Konflikte in einer totalen Unkenntnis dessen liegt was unserer Existenz am nächsten ist – der Terra Incognita der Seele.
Infolge unserer Verwirrung von Ichsucht und Ichbewusstsein die unseren Geist trüben und ihn zersplittern, stolpern wir durch unser Leben, auf einem oder beiden Augen blind, unfähig die eigentlichen Ursachen unserer Krisen zu erkennen.

In der Leidenschaft überwinden wir uns selbst. Die Leidenschaft die mich seit meiner Kindheit erfasste und begleitete, bezog sich nicht nur darauf, menschliche Abgründe in Form zu fassen sondern auch die Schönheit von Himmel, Erde, Wasser – und der Menschen. Die Malerei ist für mich bis heute eine Verbindung von Außen und Innen, ein Wegweiser zur Quelle des Menschseins, die wir analysieren und in einer Synthese als ein Portal des inneren Fortschritts nutzen können. Im Zustand der Leidenschaft sind wir wehrlos, und (das ist der unbequeme Aspekt), unterliegen den Einflüsterungen des in uns liegenden Unbewußten. 
Wenn sich die innere Welt mit der Äußeren schlagartig verbindet, zeigen sich Symptome die an eine Krankheit erinnern – es ist der Widerhall der äußeren Situation auf einen unbewussten Wunsch der solche Symptome auftreten lässt. Ein inneres Fieber ver-rückt uns in einen gänzlich anderen Zustand, das ist der Indikator dafür, dass wir das Ende eines Fadens in den Händen halten der uns dem Tor der Erkenntnis näher bringt, und dessen Öffnung nichts weniger ist als der eigentliche Auftrag des Lebens. So geschehen in Pribor, unweit des Geburtshauses von Sigmund Freud im Mai 2022, wo sich einmal mehr und tatsächlich unerwartet ein Tor öffnete. 
Die negativen Wirkungen leidenschaftlichen Auslebens werden schon im Begriff deutlich – anfänglicher Rausch mündet in Konflikte, die Nebenwirkungen dieser Droge sind beträchtlich und wirken zerstörerisch, wenn sie sich der Analyse durch die Vernunft entziehen. Die Schwelle zwischen positiver Leidenschaft und deren negativen Folgen zu erkennen und zu finden, das ist die wahre Lebenskunst. Ihre Kraft zu nutzen und sie in etwas Beständiges zu transformieren ist eine Fähigkeit des entwickelten Menschen, darin ist Verantwortung und Empathie enthalten, Kräfte die Einhalt gebieten. 

Aber auch die größten Tore sind nie absolut, sie verdichten lediglich die Erlebnisstränge und Erfahrungen auf engen Raum. Was sich dahinter auftut kennen wir nicht, wie wir das Ende eines langen Satzes beim Schreiben des ersten Buchstabens noch nicht wirklich kennen. 
Doch ahne ich jetzt, vor dem alten Portal in Pribor eine andere Wirklichkeit im gleißenden Licht der Sonne, das durch den oberen Teil des Rundbogens strömt. Ich sehe den Kirschbaum dort hinten im Garten, dessen Ast sich mir durch die geborstene Öffnung entgegen reckt. Ich sehe – oder ist es ein Wachtraum, wie er jetzt im März beginnt zu blühen und tief rote Früchte in Form eines Herzens trägt. Sind sie der Grund dass sich meine Erregung noch weiter steigert? Sind die Früchte als eine Aufforderung an mich gedacht, entleerte Herzen zu berühren und zu füllen? 

Wann wurden wir das letzte Mal wirklich berührt? Wann überfiel uns die Leidenschaft für etwas oder für jemand? Wie oft bleiben wir an der Oberfläche gebunden und fixiert, führen ein Leben im Graubereich inmitten künstlicher Buntheit?
Meine nach vielfältigen Erfahrungen in Bildern gefasste und dokumentierte Leidenschaft zwingen mich in die materielle Realität – dass das zu Tuende getan werden muss, um welchen Preis auch immer. 
Welcher Preis auch immer? Dies wörtlich zu nehmen bedeutete doch eine Negativbilanz die jede weitere Leidenschaftlichkeit und damit Ideenzufuhr unterbinden würde. Deshalb ist es gut die Flamme zu kontrollieren, sich daran zu wärmen und zu erfreuen, und dennoch, ihr im richtigen Moment Einhalt zu gebieten und ihr irdische Substanz zu verleihen. 

Leidenschaft und Perfektion sind zwei sich zentrifugal widerstreitende Kräfte, doch ermöglicht die Perfektion wie ich sie in meinem Werk fordere, eine Transformation der hochlodernden Flamme des Einfalls in einen beständigeren Aggregatszustand, sie wird als Gegenüber für mich selbst und andere lesbar und reduziert die fatale Wirkung des inneren Feuers.  
Das Tor von Pribor, das ich als Leitmotiv wählte, ist für mich eine Passage in einen anderen Erkenntnisstand der vorher nicht zugänglich war. Am Ende dieser vorläufigen Entwicklung steht für mich die Herzenergie – oder „das Wahre, Schöne und Gute“. In der goldenen Fläche des Werkes spiegelt sich dies als das universelle Feld der Schöpfung. 

Das Tor ist offen, noch mehr der Geist. Das Unsichtbare ans Tageslicht zu heben, das Verborgene sichtbar zu machen, den inneren Kern der alle Menschen untereinander und mit der Natur verbindet zu studieren, das war seit jeher das Motiv meines Lebens und meines Werkes. Und dies heißt den innersten Wesenskern, den Ursprung von Glück und Unglück zu erforschen und mit ihm in einen Dialog auf Augenhöhe zu treten. 
Es lag weit außerhalb meiner Vorstellung mich mit der Kunstszene der Gesellschaft zu identifizieren, eine Kunst in der für mich keine Zukunft und keine Antworten auf meine Fragen zu finden waren. Als ein „Alien“ unter meinesgleichen fasste ich lediglich mein Erlebtes und meine Neugier in maltechnische Form. Dies war mir auf Grund des Erlernten möglich. Und mit jedem der Schritte, die thematisch auf meinem Weg lagen, öffnete sich wieder ein kleiner Spalt der Erkenntnis. Daraus resultiert – was ich tat, tat ich nicht für die menschliche Gemeinschaft. Wenn diese es für sich nutzen konnte, wenn sie daraus die Kräfte beziehen konnte die ich selbst daraus bezog, oder gar das an sich wertlose Geld in etwas Sinnvolles verwandeln wollte, so sah ich dies als schöne Beigabe. Dialoge unter Aliens sind eben nur zwischen ihresgleichen möglich. All dem lag das Potential meiner Leidenschaft zugrunde die mich bewegte ohne an Nutzen und Entlohnung zu denken. Sie war es die mich zielgerichtet zu neuen Ufern führte, sie war es auch die mir das Tor von Pribor öffnete und damit in einen neuen Lebensabschnitt führte.

Ist es nicht höchst erstaunlich dass die Reihe der verschiedenen und wichtigsten Schritte in Wien begann – sich zielgerichtet durch Mähren fortsetzte bis nach Pribor, der Geburtsstadt Freuds, der, so wenig wie ich ein Künstler, Arzt sein wollte, stattdessen aber der Funktion der Seele auf den Grund ging wie zuvor kein anderer?
Begonnen hatte ich als „Meister gemalter Unverschämtheit“. An dem Thema „Heroes and Champions“ hatte ich mich in New York abgearbeitet und in der Politik deren beschränkte Unvermeidlichkeit erfahren. Dann der Quantensprung – in Wien mit der „Ars Erotica“, der „Magna Mater“ in Pavlov und zwischendurch die Hebung abgestürzter Flieger des Krieges aus mährischer Erde. Venusbankette vor den Türmen des AKWs in Temelin, eine getanzte Kunst statt Drogen für Diskotheken, und ein Mysterientheater in Sedlec über die Reise der Seele nach dem Tod. Ist es verwunderlich, dass ich schließlich und heute zur Überzeugung gelangt bin dass, was auch immer wir zu irgendeinem Zeitpunkt tun, das Einzige ist, das wir hätten zu diesem Zeitpunkt tun können? (Übrigens entspricht diese Einsicht dem „Bellschen Theorem“ der Quantenphysik.)
Oder, anders gesagt und nach Freud – „alles was aus uns wird oder geworden ist – es war der tiefste Wunsch der Seele“. Ist das die Ewigkeit? Ich glaube es ist die Akzeptanz der Ewigkeit. 

Metapher

Sonntag, Ostern 2022
Auf der Fahrt nach Brünn zwischen Krems und Stockerau. In Gedanken immer wieder die Frage „weshalb schon nach wenigen Tagen wieder diese Reise“? Ich befinde mich in einer Art  Zwischenzustand nach Vollendung des Zyklus der Seidenstraße. Die ratternde Automotivation ist zum Stillstand gekommen. Ein Vakuum breitet sich in mir aus,  künstlerische Narkolepsie droht. 
Da regt sich plötzlich Widerstand, ein eindringliches Wort erscheint in leuchtenden Lettern auf dem Gedankenmonitor – „LEIDENSCHAFT“. Kaum gedacht oder mehr noch empfunden dieses Wort, da, plötzlich, von irgendwo her geflogen schert ein Götterbote in Form eines Transporters vor mir ein so dass ich gezwungen bin scharf abzubremsen.  Mit übernächtigten Augen starre ich auf die Rückseite des Fahrzeugs. Dort steht in großen Buchstaben der Werbeslogan einer Firma – „Leidenschaft und Perfektion“. Die Koinzidenz der innerhalb von Sekunden auftretenden Ereignisse läßt mir das Blut in den Schläfen hämmern, ich spüre wie mich eine gewaltige Kraft von oben bis unten durchströmt. 
Kommenden Tages breche ich von Brno/Brünn auf in Richtung „mährisches Tor“, in die wunderschöne Landschaft nördlich von Ostrava die an Polen grenzt. Das Städtchen Pribor, zu Deutsch Freiberg, erscheint auf dem Hinweisschild. Ich vergesse das mährische Tor, könnte ja sein, dass diesmal, nun schon vierten Anlauf das Museum im Geburtshaus des Sigmund Freud geöffnet ist. Und tatsächlich, die Tür ist offen, ich trete ein. Es empfängt mich Martina die Kuratorin mit bezauberndem Lachen... 
Doch ist dies nicht das einzige offene Tor an diesem Tag. Unweit des Museums, in der Boniface Buska, sehe ich ein uraltes sandsteinernes Portal im Rundbogen. Die beiden Flügel des Tores in verblichenem Indigo hängen lose in den Scharnieren, was mich fatal an den Zustand unserer zerbrechenden Gesellschaft erinnert. Links unten eine herausgebrochene Füllung durch die der Blick in das dahinter liegende Grundstück gelangt. Dort wächst´s und gedeiht´s zwischen moosigen Trümmern und den gerade ausschlagenden Zweigen eines alten Kirschbaums. 
Nun treten auch die üblichen „Krankheitssymptome“ auf wie sie sich am Anfang einer jeden Idee zeigen. Eine Art kreative Raserei erfasst mich, ich entferne mich von dem Portal, kehre um, zwei oder drei Mal dasselbe – ich fertige eine Skizze an, als kleiner Anhaltspunkt des Erlebten: HERZBLUT - mit Leib und Seele, rückhaltlose Zuneigung und flammende Überzeugung. Dann – Transzendenz des Banalen.

Erst später finde ich ein Zitat der Zisterzienser: „Porta patet – cor magis – das Tor ist offen – das Herz noch mehr.“
Und weiter – „Leidenschaft ist in ihrer positiven Form ein Antrieb Exzellenz in einem bestimmten Bereich zu erlangen“.
M.Scharpf Juni 2022