Monolith im Strom der Zeit
Kybele stellt sich als Prototyp der großen Fruchtbarkeitsgöttin vor, aber auch sie ist eine Nachkommin noch älterer Urbilder. Sie ist Herrin über das fruchtbare Land, das Leben, und auch über den Tod. Aus ihr wurde beim Konzil von Ephesos 431 die christliche Maria. Eine gewaltige genetische Linie bis zum heutigen Tag.
Zusammen mit Dionysos bildet sie eine Metapher für die Resistenz des Lebens und der Schöpfung im weitesten Sinne. Damit antwortet sie auf die wohl größte Herausforderung unserer Zeit – die Erhaltung der Lebensgrundlagen.
Der Irrglaube des alles Machbaren wälzt sich unaufhaltsam über diese Welt. Wirtschaftliche Einflusssphären und politische Machtstrukturen werden bedenkenlos erweitert, Kulturen unterworfen und mit ihnen die traditionellen Fähigkeiten, der seelische Reichtum der Völker. Was sich da monströs wälzt, im Gleichschritt mit oberflächlicher Erleichterungskultur, von globalen Mächten dereinst implantiert, ließ uns zu deren willfähriger Beute werden. „Gehe dem was Du siehst auf den Grund.“, empfahl den Menschen vor tausend Jahren nicht etwa ein Künstler, sondern der römische Philosophenkaiser Marc Aurel. Dieser Satz besitzt für uns heute eine besondere Aktualität, denn wir sind kaum noch in der Lage – da selbst Teil der wuchernden Verblendung Durch-Blick zu haben. Wir fügen uns, bis schließlich selbst zu Teflon erstarrt, kalt und gesichtslos.
So viel Sozialkritik eines Künstlers und notorischen Hinschauers sei erlaubt. Doch nun wollen wir uns dem Urgrund des Lebens zuwenden, der sich hinter all diesen Phänomenen unzerstörbar in Erinnerung ruft. Ein Urgrund dessen Geheimnis bislang kein Wissenschaftler lüften konnte.
Für Goethe waren die Muttergottheiten im Besitz des Wissens über die Schöpfung. Im alten Rom empfahlen die Sibyllen in einer Zeit der Not nach der großen Erdmutter zu suchen. Die Suche blieb nicht erfolglos, will man den Historikern glauben, wurden die Zeiten danach besser. Zugegeben, in Zeiten von Facebook und Monsanto wird man nicht sehr beeindruckt sein von diesen alten Märchen des Götterglaubens. Ammenmärchen, meinen manche.
Ammenmärchen? Nebenbei gesagt, die Ammen hatten über die lebensspendende Milch hinaus mehr Weisheit zu bieten als mancher Philosoph, waren den Wurzeln des Seins näher als so mancher Nobelpreisträger für Biochemie.
Und nun kommen wir schon in die Nähe des von mir so geliebten Morava – die Ammen dieser Region besaßen Weltruf.
III. Ein Tag mit Kybele
Mikulov, Morava, 19.4.2014
Tagelang auf der Suche nach dem optimalen Hintergrund, rund um den Palava, ziemlich genau dort, wo sich Österreich und Tschechien in der alten Stadt Mikulov die Hand reichen. Palava ist ein Höhenrücken, an dessen westlicher Flanke sich diese ehemalige Grenzstadt des kalten Krieges an die kalkigen Felsen schmiegt. Zum Norden hin, wo sich der Berg steil in die Tiefe bricht und bis zum Strand der gestauten Thaya schwingt, liegt Dolni Vestonice, das New York der eiszeitlichen Mammutjäger. Hier trafen sich vor rund dreißigtausend Jahren Menschen und Tiere auf der Flucht vor dem Eis, das beinahe ganz Europa überzog. Seit dieser Zeit ist der Berg Palava besiedelt. Heute lebt dort ein fröhlicher und warmherziger Menschenschlag. Liegt es vielleicht am köstlichen Traminer?
Ich wohne in der Stadt Breclav, früher Lundenburg, auf der südlichen Seite des Palava gelegen. Viele Bilder und Impressionen verdanke ich dieser Stadt. Vor allem der Ruine der alten Mühle, in der Obdachlose hausen, die ich öfters als Statisten und Mitwirkende in meine „Venushappenings“ einbezog. Ebenso die geborstenen Eisen und Backsteinelemente der alten Mühle, sie dienten in vielen meiner Bilder als Hintergrund – für das, was bleibt.
In weitem Bogen umfahre ich den Palava, der sich in allen Himmelsrichtungen als blauer Berg hinter dem köstlichen Gelb der Rapsfelder abhebt. Die interessantesten Plätze merke ich mir für die Fotoaufnahmen der nächsten Tage vor.
Am Donnerstag die ersten Aufnahmen in der alten Mühle mit Hana, dem Modell, mit dem ich am Längsten arbeite. Sie lebt jetzt als Bäuerin kurz hinter der Grenze auf österreichischem Gebiet. In der Mühle wohnen jetzt andere, vorher nie gesehene Ausgestoßene. Ich fotografiere Hana mit einer präparierten Schaufensterpuppe auf dem Schoß. Kybele und Attis, Vorläuferin und Urahnin der christlichen Pieta. Plötzlich lautes Geschrei. Aus einem der wenigen bewohnbaren Räume kommt eine Frau. Die Hände hat sie verzweifelt vors Gesicht geschlagen. Sie schreit, dass es einen Stein erweichen könnte. Ich unterbreche die Arbeit und will nach ihr sehen, sie ist verschwunden, nur der Wind rauscht in den Blättern der Bäume. Das ist eine echte Zäsur, ich sehe von jetzt an nur den apokalyptischen Müll und den Dreck, ich weiß, dieser Ort ist abgearbeitet.
Nun ist Abend, die schreiende Frau lässt mir keine Ruhe. Ich fahre nochmals zur Ruine der alten Mühle. Es ist Polizei da. Die Bewohner, unter anderem Lubomir, der Einzige den ich noch kenne, stehen betreten vor dem mit einem Teppich notdürftig verhängten Eingang der Behausung. Dazwischen einige Hunde, die sich durch den Schutt der Ruine jagen. Die Frau vom Vortag steht wie erstarrt vor einem zugedeckten länglichen Gegenstand. Lubomir erzählt mir was passiert war. Der um Jahre jüngere Freund der Frau hatte eine Beziehung in der Stadt, er gestand sie seiner Lebensgefährtin worauf diese eine fürchterliche Szene machte. Im Rausch zog sich der Junge in eine Ecke der Ruine zurück und brachte sich lebensgefährliche Schnitte am Unterleib bei. Die Polizei lässt das Areal sperren. Ein Sanka kommt. Ich erfahre nicht mehr wie es mit dem Jungen weiter geht, aber der Mandelbaum meiner Phantasie verbindet dieses aktuelle Drama mit dem alten Mythos von Kybele.
- „Attis, der Geliebte Kybeles entmannte sich wegen ihrer Eifersucht. Sein Blut aber befruchtete die Erde, aus ihm wuchs ein Mandelbaum mit schönen Früchten hervor.“
Karsamstag morgen...
Inzwischen haben vier weitere Frauen für Fotoaufnahmen zugesagt. Allesamt vom Land. Huren, Bäuerinnen, Arbeiterinnen oder Arbeitslos. Am Vormittag kommt der Anruf – sie trauen sich nicht. Hana, Lenka und Dana aber sind zuverlässig zur Stelle.
Ich fahre wieder ins Hotel, kontrolliere die Requisiten und lade die Akkus, gehe nochmals den Plan des folgenden Tages durch. Um 9 Uhr treffe ich die Frauen im Haus von Hana. Die Zeit ist knapp, die Modelle haben nur Zeit bis 13 Uhr, alle haben Familie, und dies für drei verschiedene Locations! Die Frauen ziehen sich um, dann geht es in die alte Kaserne im Wald hinter dem Hotel. Auf durchlöcherten Warnschildern ist in Tschechisch zu lesen: Vorsicht Sprengmittel, betreten verboten. Das Gebäude vollgesprayt mit Graffitis, zum Teil sehr originell. In einem der Räume beginne ich mit den Aufnahmen. Mein lange vorbereitetes Thema und Motiv: die rasende Kybele und Attis. Lenka setzt sich auf den mitgebrachten Hocker, nimmt die vorher präparierte Schaufensterpuppe Namens Attis auf den Schoß. Dana steht daneben. Eros und Thanatos. Die personifizierte Trauer mit russischer Pelzmütze auf dem Kopf. Sie schaut schlecht aus, ihr Mann ist Epileptiker und sie hat für alles zu sorgen. Im Hintergrund sehe ich ein paar Soldaten durch das Gebäude streifen, seltsam, früher war nie jemand dort. Nach einer Stunde verlassen wir das Gebäude, Franz hat Plattfuß an seinem Geländewagen. Wahrscheinlich wegen der vielen Scherben. Mit Dana und Lenka fahre ich nun nach Dolni Vestonice, der nächsten Location. Dort sollen Aufnahmen am Fundort der dreißigtausend Jahre alten Venus folgen, der ersten Keramikfigur der Welt. Am lehmigen Hang des Grabungsstelle baue ich die Personengruppe auf, ein Sinnbild prallen Lebens mit grünen und roten Äpfeln. Mit Schrecken stelle ich fest, dass meine Brieftasche fehlt. Kein Geld, keine Karten, kein Führerschein. Noch für eine Stunde Aufnahmen im Rapsfeld. Dann fahren wir in Richtung Hotel wo ich die Tasche vermute. Die Stimmung ist nicht die Beste. Da kommt plötzlich Hanas Anruf – sie hat die Tasche, einer der Soldaten fand sie in der Kaserne und wollte sie gerade zur Polizei bringen. Ein Mühlstein fällt mir vom Herzen. Im Restaurant sichte ich die Fotos. Es hat sich gelohnt... Und wahrhaftig – die Natur entfaltet sich an jenem Tag in ihrer ganzen Pracht, es ist der 19.Mai. Und ohne mir darüber bewußt zu sein, in diesen Tagen feierte man im alten Rom das Fest der Kybele...
Zeus verwandelte Kybele in einen Felsen oder in einen vom Himmel gefallenen Meteoriten. Ein Fels hier in Morava, die Bergkuppe des Palava, gleicht der Figurengruppe einer Pieta.
Rundum blühendes Land, Weinberge. Kybele trägt Attis auf dem Schoß, sein Blut entströmt aus der sich selbst zugefügten Wunde. Und im gleichen Moment, vor meinen Augen verwandelt es sich in die leuchtend roten Hagebutten dort in den Sträuchern wilder Rosen, die dem Traminer den Geschmack verleihen. Weiter hinten dasselbe Blut in den Blüten des Klatschmohns. Und bis zum Horizont weites Land, von ockrig-schillerndem Weizen durchzogen.
IV. Unzerstörbar
Rasendes Treiben, getriebenes Hasten, der Einkaufsboulevar Rue de Neufe in Brüssel. Vormittags um 10 Uhr geht es noch eher gemächlich zu, die Romabettler, am Boden sitzend sind noch von Weitem sichtbar, geben den Passanten noch die Chance sie weiträumig zu meiden. Dann wird´s dichter. Der Kauf neuer Schuhe scheitert, weil die Buchungsmaschine versagt, wodurch andere Kaufwillige wartend in einer Reihe gezwungen werden über die tatsächliche Notwendigkeit ihres Erwerbs nachzudenken. So auch ich. Ich verlasse das Geschäft ohne Schuhe. Und, als wäre die quantitative Vielfalt ein Rausch gewesen, nehme ich wahr, dass in all diesen Tempeln des Konsums dasselbe angeboten wird – dasselbe wie in Lissabon, Moskau, Peking, von Abu Dhabi bis New York. Diese Vielfalt ist reine Illusion, sinniere ich grübelnd und betrete die Kirche Notre Dame du Finistre, inmitten der Shoppingmeile gelegen. Ein Kreuzweg im Rubensstil fesselt mich erst. Ich schreite langsam in Richtung Chor. Im Halbdunkeln eine weibliche Gestalt. Dunkel wie die schwarzbraunen eichenen Chorbänke an der Seite. Sie liegt mit fülligem Bauch auf dem nackten Steinboden, Beine und Füße verrenkt auf der Bank des Chorgestühls. Die Arme hat sie nach vorne gestreckt. Die Frau hebt den Kopf als sie meine Aufmerksamkeit spürt, ihre Augen richten sich auf mich, sie spricht mich in französisch an. Stellt eine Frage die ich auch nicht hätte beantworten können, wenn ich sie verstanden hätte. Und doch verstehe ich sie mit dem Gefühl. „Was suchst du hier?“ Ich bekomme keinen Ton heraus, setze mich aber neben die Frau, die nun seltsame windende Bewegungen macht ohne sich vom Platz zu bewegen. Und in den vielleicht zwei oder gar zehn Minuten, in denen ich stumm dasitze, und das Gefühl für Zeit verliere, sieht sie mir unentwegt in die Augen. Ich erhebe mich und ihr Kopf sinkt zurück auf die marmornen Fliesen. Draußen dichter Menschenstrom, Konsumlawine, bunt verhüllt oder entblößt, alle Farben Europas eilen, drängen nach dem günstigsten Angebot auf dem Strichcode der Etiketten. Auf dem Rückweg kann ich nicht anders, es zieht mich wieder in die Kirche. Ich kann das Bild mit der Frau nicht vergessen. Ich gehe eilenden Schrittes zum Chor, aber sie ist verschwunden. Jetzt hat sich aber das geschmiedete Gitter zu einer der seitlichen Kapellen geöffnet und ich trete ein. Dort steht eine der schönsten flämischen gotischen Madonnen im Halbdunkel, auf den Bänken zwei oder drei zusammengesunkene Betende. Anbetung und Demut in Erwartung einer Gegenleistung? Läßt Gott mit sich handeln? Ich erwarte nichts mehr an diesem Tag. Und doch strömt in der Betrachtung des holzgeschnitzten Kunstwerkes eine gewaltige Kraft in mich. Das letztemal hatte ich so ein Erlebnis in der ukrainischen Stadt Czernowitz, als ich fünf junge Frauen einen Choral in einer Kirche singen hörte. Dann am Abend in der Vertretung des Landes die Eröffnung der Ausstellung „Beatrice – Weg aus dem Dunkel“. Ich erhalte großen Beifall.