Was ist es, das die so unterschiedlichen Topographien, Klimazonen und Kulturen unserer Welt verbindet? Es ist der Mensch, der – so verschieden er auch sein mag, sich doch so verwandt ist. Eine Verwandtschaft, die sich in ihren vielfältigen Kulturen, die immer aus den Tiefen der Seele zu uns sprechen, zeigt. Dem ist der Zyklus der „SEIDENSTRSSE“ gewidmet.
Die Bilder des Zyklus „SEIDENSTRASSE“, entstanden im Laufe der vergangenen Jahre greifen das Motiv des Kulturtransfers auf den Erlebnisebenen des Äußeren, Geographischen, des Wissens, sowie auf der spirituellen und seelischen Ebene auf. Zunächst ist mit dem Begriff der „SEIDENSTRASSE“ die Verbindungslinie zwischen dem westlichsten Punkt europäischer Kultur der an den Atlantik grenzt und dem östlichsten Ufer Asiens, dem der Pazifik die Grenze setzt, gemeint – die historische „SEIDENSTRASSE".
Neue Wege zu gehen ist keine Errungenschaft der Moderne. Wissensdurstige beschritten sie seit tausenden von Jahren. Die Zentren europäischer Kultur sind uns allen bekannt. Allen voran Venedig und Florenz, Brennpunkte der Kunst die globale Beziehungen unterhielten. Aus China kamen nicht nur Nudeln, Teigtaschen und Seide, es kam auch der Pfeffer aus Indien, Lapislazuli, antike Maltechniken, Yoga und Kampftechniken – oder die Weisheit Asiens zu uns. Immer aber war es die Neugier oder die Not, die den ersten ursprünglichen Impuls zu erweiternder Welterfahrung bildete. Dass das erworbene Wissen oder die Schätze im Nachhinein von der Gier der Machtzentren genutzt oder missbraucht wurden ist allzu menschlich.
Der Entdecker gleicht dem Profiteur in keiner Weise – Mut und Entschlossenheit auf der Suche nach irdischen (oder außerirdischen) Paradiesen, von kindlicher Naivität getrieben und Entdeckungsfreude kennzeichnet die einen. Dem Profiteur sind diese Eigenschaften eher fremd, oft missbraucht er das Entdeckte. Beiden jedoch ist eine Seele zu eigen, die das Glück im Außen zu finden glaubt. Die Begriffe von der Vita Kontemplativa und Vita Aktiva kennzeichnen diesen Gegensatz.
Das wohl berühmteste Gemälde der Welt, die Gioconda entstand durch die Hand Leonardos – das Pigment Lapislazuli für seine Werke kam aus Afghanistan, die klassische Maltechnik hatte ihre Wurzel in den antiken Zentren Asiens und Nordafrikas.
Auf meinen Reisen begegnete mir das Gesicht der Mona Lisa als Repräsentant westlicher Malerei immer wieder, ob auf den Straßen Europas oder in der Welt des Rotlichts. Den daraus entstandenen Bildern ist deshalb der Kern des Zyklus gewidmet. Haltung und Hände des Meisterwerks von Leonardo habe ich dabei übernommen.
Sich dem Motiv der Mona Lisa nicht nur zu nähern sondern es zu verarbeiten und mit unserer Zeit in Zusammenhang zu bringen erscheint dünnflüssigem Intellektualismus vielleicht zu banal. Schon viele Künstler haben dieses Gemälde interpretiert und kamen über Satire oder bloße Kopie nicht aus. Nichts liegt mir jedoch ferner als dieses Kunstwerk zu ironisieren., denn für mich besitzt es die Kraft eines in Farbe umgesetzten Archetypus. In diesem Sinn zählt es zu den wahrhaft epischen Werken der Menschheit. Und längst ist es in das kollektive Unbewusste der menschlichen Gesellschaft eingegangen als ein Sinnbild weiblichen Geheimnisses.
In meinen aus der Gioconda entwickelten Portraits finden sich zwar die Ethnien entlang der „SEIDENSTRASSE“ – doch nicht nur diese, sondern dahinter ebenfalls die in Metaphern gefassten seelischen Aggregatzustände und Verhaltensweisen der Menschen unserer Zeit.
In Mähren fertigten die Jäger der Eiszeit Kunstwerke welche die moderne Plastik vorwegnahmen – sie prägten damit einen eigenen Stilbegriff eiszeitlicher Kultur – das „Pavlovien“. Diese Kultur der Eiszeit reichte vom Atlantik bis Sibirien. Die Venusstatuetten mögen befremdlich und anders sein als Mona Lisa, doch im elementaren Sinne nicht weniger schön. Einer Anthropologin des mährischen Landesmuseums in Brünn verdanke ich eine Reihe von Bildideen über das archaische Leben vor 27.000 Jahren das für uns, den suchenden modernen Menschen nicht wenige aktuelle Aspekte enthält.
Unzählige Beispiele belegen die Impulse und das Wissen, das über die „SEIDENSTRASSE“ zugänglich wurde. Kybele, eine matriarchalische Göttin Vorderasiens wurde bei den Römern zur Göttin der Fruchtbarkeit. Aus ihr entstand beim Konzil von Nicäa die christliche Maria. Der androgyne indische Gott Ardanarishvara nahm die abendländische Vorstellung vom ursprünglich ganzen Menschen vorweg und findet heute in der Philosophie der Gender modernen Ausdruck. Die griechische Tragödie beherrscht mit ihren Mythen das gesamte Feld menschlichen Dramas und Glücks, gültig und aktuell damals wie heute.
Auch ich habe vieles auf Reisen erfahren, mein Bilderzyklus ist deswegen nicht zuletzt auch ein zu tiefst biographischer der ein Leben abbildet, dessen Brüche und Erkenntnisse, eine Lebensstrasse, der Maler oft auf Seide aber auch auf derber Jute gebettet. Auf einem Markt in Trivandrum erlebte ich die Herstellung roter Tempelfarbe aus Kurkuma und Kalk, männlich weibliche Repräsentanten der Materie. Dem entsprach die nur wenige Meter entfernte Skulptur des Ardanarishvara. Ich habe das überirdische Licht gesehen das die Glasfenster der Saint Chapelle in Paris im Dunkel verbreiten. Vieles habe ich über die Menschen der Eiszeit erfahren, aber auch über meine eigenen Zeitgenossen.
Ich habe die Bergungen abgestürzter Piloten des Krieges unterstützt, begleitet und verarbeitet, habe in deren Überresten die Folgen kriegerischer Gewalt gesehen. Dies geschah unweit von Pribor, des Geburtsorts von Sigmund Freud, dem Erforscher des Unbewussten, der neben Goethe einer meiner wichtigsten Impulsgeber ist. Ich war sorglos unterwegs in Bombays dunkelsten Vierteln auf der Suche nach Modellen und Motiven. Und in New York schlug mir anlässlich meiner Ausstellung hegemoniale Unterbelichtung entgegen. Ich ging aus diesen Tabuzonen der Anderswelt unbeschadet, doch reich an Lebenserfahrung hervor, vielleicht weil ich diese persönliche „SEIDENSTRASSE“ nie im Kontext mit dem allgemeinen Zeitgeist beschritt. Und jetzt erlebe ich eine Erosion der Gesellschaften in der sich Ängste, Unwissenheit und damit Aggression zum Zerwürfnis – womöglich sogar zu neuer Barbarei zwischen den Menschen potenzieren.
Wir wissen vom Pfad des Urmenschen, der sich von Afrika aus über die gesamte Welt bewegte. Wir kennen den Schimmer edler Seide, den Genuss der Gewürze aus Asien und Afrika, wir wissen von der blauen Höhle des Lapislazuli aus Afghanistan, das Leonardo und Frau Angelico in ihren Bildern zur Anwendung brachten. Wir analysieren Pigmente und Maltechniken, uns ist die Kunst unserer Vorfahren in den Höhlen, die der Ikonen, der Kalligraphie, der Künste die der Malerei vorausgingen und unser Leben mit der eigentlichen Charakteristika des Menschen bereicherte bekannt. Kennen wir dies alles aber tatsächlich? Haben wir Mona Lisa im Louvre mit unserem inneren Auge tatsächlich gesehen? Sehen wir die Meisterwerke in Museen, eiszeitlichen Höhlen, Kirchen und Palästen wirklich? Oder findet deren Betrachtung nur noch in unserem Smartphone statt? Erleben wir überhaupt unser Leben?
Eine Wüste der Empfindungslosigkeit beherrscht das Feld, auf einem Auge blind sehen wir die Welt nicht Mehr – sondern Eindimensional als Spielplatz unseres Narzissmus.
Wir wissen um die existentiellen Wege unserer Berührung mit der Schöpfung. Wir wissen wie wichtig es ist sie neu zu entdecken. Es sind nicht die ausgetretenen Pfade die unsere Zukunft sichern und unseren Horizont erweitern, sondern jene die erst wieder entdeckt werden müssen. Wege, die wir im Gewirr der globalen Straßen nicht mehr finden, wie wir zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Es sind Wege die sich vielleicht materiell nicht lohnen und keinen spontanen Gewinn versprechen. Wege die verschüttet wurden und erst wieder erinnert werden müssen. Die alte „SEIDENSTRASSE“ ist einer davon. In meinem Arbeitskonzept steht sie darüber hinaus für die Wanderung des Menschen zu sich selbst – zu Anderen und zum Fremden. Wir erinnern uns vielleicht an das Beschreiten von Wegen, die weiter reichen als nur Entfernungen zu überwinden. Es sind die Straßen auf denen unsere Kultur beruht, die Straße der Entdeckungen, Erfindungen und Selbstfindungen, die der Mensch aus Not oder auf der Suche nach einem besseren Leben, aus Neugier oder auf der Suche nach dem Schönen, der Faszination des Fremden, nach dem noch Unentdeckten bewanderte.
Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen dass auch Konflikte, Kriege und Krisen, die wir reflexhaft negativ interpretieren, Verbindungen schufen – der Mensch ist in der Lage auch Hass in kreative Leistung und Empathie zu verwandeln. Viele Erfindungen verdanken wir den Kriegen, diesen katastrophalen Phasen der Geschichte, viele Kenntnisse erwarben die Völker durch Gewaltakte indem sie diese später in humanitäre Leistungen transformierten. Im Frieden zeigt sich der Mensch weniger kreativ als bequem, das größte Geschenk an den Menschen, wenn auch das dürrste Ästchen am Baum der Erkenntnis – der Verstand – wird zumeist erst durch Konflikte aktiviert. Das Motiv der „SEIDENSTRASSE“ ist deswegen auch eine Geschichte der Herausforderungen.
Aus den Wanderungen einzelner Individualisten und Sucher sind globale Bewegungen der Masse geworden. Doch lässt jede Entdeckung Kolonisierung, Ausbeutung und Missbrauch folgen, wenn nicht analog auch eine Wanderung und damit Wandlung in uns selbst stattfindet. Ohne eine solche finden wir uns wieder als ins Leben geworfene, ohne Orientierung den inneren Einflüsterungen und äußeren Mächten ausgeliefert. Friedliche Wanderungen mutieren dann zu Heerzügen, gleich ob mit Waffen oder Geldautomaten. Wir entdecken vielleicht aber auch, dass äußere und innere Reisen sich gegenseitig bedingen wenn wir dem Anspruch des Menschseins gerecht werden wollen, das Geheimnis, das Mysterium unserer Existenz zu entdecken und zu ergründen.
Resümee
Auf der „SEIDENSTRASSE“ meines Lebens wählte ich den Weg der Kunst und beschritt damit den schmalen Pfad in dem seit alters her Intuition und Intellekt sich idealerweise vereinen. Damit begegnete ich vielem Guten wie Schlechtem, polare Kräfte alles Lebendigen die ich als Plus und Minus auf meiner Wanderschaft zu schätzen gelernt hatte.
Oft hing das Glück an „seidenem Faden“ auf dieser Straße des Lebens. Doch lernte ich zu verstehen, dass wir Irrwege fatalerweise oft zu negativ interpretieren, wir verstehen nicht, dass sich gerade aus ihnen die wesentlichsten Erfahrungen bilden aus denen der Reichtum des Lebens entstehen kann.
In dem von mir gewählten Weg den ich hier mit der Metapher „SEIDENSTRASSE“ umschreibe, ist mir die Möglichkeit gegeben, die Zustände des Menschseins auszudrücken, so wie ich sie als einer unter vielen am eigenen Leib erfahren durfte, auf meiner Wanderschaft über die Straße des Lebens.
Manfred Scharpf, Januar 2021
Januar 2021