1945 – nach dem Wunsch meiner Mutter sollte ich ein Mädchen werden. Alte Fotos zeigen mich als solches verkleidet. Das ging gründlich schief und verursachte einige Verwerfungen auf dem Weg zum Erwachsenen.
Mit zwölf begann ich – zur Verwunderung meiner Eltern, Bachs Kunst der Fuge und Monteverdi´s Orfeo zu hören. Mit sechzehn las ich Dantes Inferno. Danach de Sades Justine, mehr aus Angst vor Entdeckung als aus Pietät verkrochen unter der Bettdecke. Solche Ängste gingen erst später den Bach runter. Das Werk de Sades, nicht gerade lustbeflügelnd, sondern eher das krasse Gegenteil, hatte einer meiner Klassenkameraden aus dem Schrank seines Vaters, eines Altphilologen entwendet und verlieh es an seine Mitschüler gegen Entgelt. Zuerst schockiert, dann fasziniert. Da hatte doch Einer am Ende des 18.Jhdts. den Mut, die Abgründe der menschlichen Seele abzubilden, wie sie sich sonst nur in Kriegszeiten demaskieren. Er, de Sade, dessen Name für eine Pathologie der Perversion herhalten muss, von dem seltsamerweise aber kaum persönliche Abartigkeiten bekannt sind – hatte den Zustand der gesellschaftlichen Elite (der unseren nicht unähnlich), am Vorabend der französischen Revolution beschrieben. Eine Zeit des Umbruchs war gekommen. Zur Zeitenwende vom 19. zum 20. Jhdt. verliehen die Forscher Krafft-Ebing und Sigmund Freud den von de Sade beschriebenen Grotesken ein psychologisches Gesicht. Trotz dieser Erkenntnisse kam es zur größten Katastrophe seit Menschengedenken.
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